Rainer Maria Rilke schrieb in seinem Buch über den Bildhauer Auguste Rodin von jener STILLE, die um große Dinge sei, ob diese nun groß seien oder klein.
Diese Dinge enthielten zugleich Bewegung und Gegenbewegung, sie ruhten in sich, sie schauten in sich – er sprach von einem Schauen, dem man nicht begegnen könne. Dann dieser eine Satz, wie geschrieben für mich: Seine Formen seien wie ein Anvertrautes durch seine Hände gegangen, rein und heil.
Ich machte meine erste Skulptur als ich 51 geworden war. Und vielleicht ist es ja so, dass ich die mir anvertrauten Formen nur rein und heil durch mein Leben tragen konnte, indem ich meine Kunst NICHT machte. Ich hätte sie verraten müssen in jenem Augenblick, in dem sie entstand, entstehen wollte, 1976 oder 1977, ich war da gerade 17 geworden. Zum anderen waren die mich umgebenden Prozesse und Ereignisse, ja auch meine Empfindungen zu schwierig, zu differenziert, wohl auch oft zu verzweifelt, um in genau jenen Formen ausgedrückt werden zu können, die meine werden wollten – ich brauchte für dieses schwierige Leben das Wort.
So sind die Formen mit mir durch die Worte gegangen, reiften, wurden zu stillen, von mir unbemerkten Gefährten. Die Skulpturen, die nun seit 2012 entstehen, sind unterdessen sichtbarer als das nur Geistige. Sie können anwesend sein, Zeugnis ablegen von ihren Begegnungen mit dem Leben, dem Denken, der Dichtung, der Kunst, von ihrer Begegnung mit mir. Und noch einmal Rilke: Alles ist austragen – und dann gebären.
Du mußt nicht bangen, Gott. Sie sagen: mein
zu allen Dingen, die geduldig sind.
Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift
und sagt: mein Baum.
Rainer Maria Rilke
Für Georg Heym und Ernst Balcke
An der Havel
Sie treten rückwärts aus geteilten Schatten
Schon geht das Abendlicht geradeaus
Durch Bucht und Bäume geistern die Fregatten
Die Angler töten nicht sie ruhen aus
Der Fluss sei blind doch die durch Helles dringen
Verspiegelt sind die Worte unter dem Eis
Schreie vergeblich wollten wir auch singen
Aus einem Rohr von dem noch eines weiß
Und Gegenfarben wie im Vers gefroren
Der bricht und taucht nach einem Blick zum Grund
Wer atmet dort mit anderer Arten Ohren
Vielleicht kennt Zärtlichkeit doch einen Mund
Die Plastikboote wippend an den Wegen
Wogegen Enten treiben in den nahen Hafen
Und Schafen gleich die Schwäne an den Stegen
Und kleine Hügel drehen sich zum Schlafen
Heidrun Feistner 2011
(Aus:) Testament eines Frühlings an den Frühling gerichtet
Bürgerpark
Schatten, blasser noch als das Licht, das Kronen durchwandert, die unbewohnt sind und den Toten gehören, rührende Höflichkeiten von Baum zu Baum. In ihren Konventionen beharren Sie auf dem Grün. Die Hälfte der Stühle an Ketten, aber die vagen Räume verschließen sich schon.
An die uralte Unruh erinnert, die den Hiatus der Zeit übergeht, sehe ich meinen Herzschlag gelegt an die Biegung des Weins. Schöner Körper am Gaumen, wächst mir das flüchtige Gras. Unweit ein alter Mann. Seine Traurigkeit gleicht dem sich früher lösenden Schatten, meine der Sonne, welche noch sinkt. Im Zwiespalt des Raumes, den wir behaupten, verginge der Tag.
Am Sonntag hinaus
Wieder im Park, der sich füllt. An diesem ersten Sonntag im Frühling bewegen sich Gruppen mit der gebotenen Vorsicht der Sprache aneinander vorbei, ihre Geschwindigkeiten nähern sich sonderbar an, auch die der Einsamen, die Gemeinsamkeit suchen, Kinder stürzen noch aus dem Text, aus Büschen oder auch Bäumen, Variable der Zeit.
Prosa, die in der neuen Sonne sich formt, Entgegnungen findet, vergißt.
Das Gehen schreibt sich ihr ein: In die Erinnerung, gehen zu wollen, gegangen zu sein.
Ich war es schnell müde geworden, geschrieben zu werden, blieb stehen. Inmitten der Teller, Gläser. Fragen der Bälle, kleiner und größerer Vögel, diese fliegen mir zu.
Hälften der Worte. Begegnen wir ihnen, retten wir Käfer vor dem Ertrinken, andere vor ihrem Zorn.
Wort. Vor Sprache gestellt. Sie ginge hindurch als denke sie an ein spätes Gedicht.
Heidrun Feistner 2012
wie viele welten aus einer einzigen rippe geschlagen
immergleiche die gesten des schöpfers seiner lust
die grüne flamme des stolzes verbrennt selbst die asche der trauer
wie gewaltsam kann überlegenheit sein
was bleibt nach dem staunen das grab deiner formen
jede war einzigartig ein mann ein kind eine frau
sie wachsen nicht nach nicht wie jene Picasso
du wusstest das da war Braque
deine hände die klug sind falten papiere
sie suchen nach formen die uns gemeinsam gehören
wenn du sie anrührst
sind sie verbrannt
1996/2008
Die Müde
Dies Müde, Flügellose ruht auf mir
So wie ein großes, sanftes, goldnes Tier.
Uns trägt was schwillt: ein Trank, der überlief.
Es blickt mich an. Sein Blick ist gut und tief.
Es lastet schwerer und mein Atem hebt
Es nicht mehr auf. Sein Drachenmantel webt
Ins Düster sich. Ein Zackenkrallen spinnt,
Drum schale Milch aus einem Mohnkopf rinnt.
Nun darf ich nur noch eigne Lider sehn,
Die blau und grüne Pfauenräder drehn.
Ich habe kein Gesicht mehr. Hauch wird Stein.
Bedächtig kehrt mein Schauen in mich ein.
Es steigt hinab, hinab, es fällt, wird dicht.
Der Schwarzschlund sackt es ein: es wehrt sich nicht.
Es sinkt geballt in tauben Mauernkern.
Es ist in sich. Nur seltsam klar und fern
Scheint auch dies Müde, Flügellose hier,
So wie ein kleines, silbern sanftes Tier.
Gertrud Kolmar
Lutherstr. 32
06886 Lutherstadt Wittenberg
Besuche nach Vereinbarung unter 0177 3432606
- oder aber auch bei Gelegenheit...
Herzlich Willkommen!
Das Menschenkind / The human child / Stein / Länge ca. 50cm / 2022 / Foto HF
Die Engel bedenken sich / Erster bis Dritter Engel / Engel der Geschichte / Alabaster blau / 43 bis 47 cm / 2021 / Foto Olaf Mokansky
Future Landscape
Die Natur holt sich den Menschen zurück. Im Bestreben, diesem „Sog“ zu entkommen, setzen einige auf die Technik als ungebrochenes Instrument jenes Fortschritts, der in der wachsenden Entfernung des Menschen von Natur vermessen wird. Andere nehmen den Weg der Umkehr zur Natur, deren Agens wir doch sind, suchen nach einem gemeinsamen Weg.
Die Kunst vermag hier beispielhaft vorzugehen. Sie enthält die Möglichkeit der Vergeistigung des Anorganischen, der Materie, bewahrt einen Traum, den nur wir selber zu träumen vermögen: in uns träumt die Natur. Es ist der uralte Traum der Versöhnung mit ihr, die uns gewaltig, geschändet, ungezähmt gegenübersteht, mehr und mehr als Rächerin unseres eigenen Versagens vor ihr. Jener Traum wurde und wird in der Kunst gelebt als universelle Idee der Befreiung, wir nannten sie Utopie, jetzt beschreiben wir sie auf der Suche nach einem Begriff. Die Kunst, begreifen wir, kann gar nicht anders, als „utopisch“ zu sein.
Atlantis erinnert das Untergangsszenario einer Hochkultur, gibt ihr meine Form. Wie sollte Zukunft ohne die Gegenwart der Katastrophe gedacht werden können. Diese Skulptur gehört zur Serie Engel der Geschichte, es ist eine meiner ersten Arbeiten. Wenn man sie dreht, erkennt man: sie zitiert Werke der Renaissance. Weiter sind hier Für Paul Klee, Für Friedrich Hölderlin und Für Rainer Maria Rilke vertreten, die im letzten Jahr entstanden. Es sind dreidimensionale Zwiesprachen mit existenziellen philosophischen und literarischen Texten.
Meine Arbeiten wollen vielschichtig, mehrdeutig, wandelbar sein. Im Wechsel der Ansicht ändert sich häufig der Charakter, der Ausdruck eines Gesichts, viele Steine stecken in einem Stein. Häufig "schnitt" ich Sequenzen in die Steine hinein - hinein wie in einen Film. Was auch immer ich tat: Die Skulptur bleibt in sich geschlossen, bleibt homogen.
El canto general formuliert den Gesang des Lebendigen, den Gesang des Lebens in organischen Formen, welche uralte Ambivalenzen der Zuneigung und der Abwehr zu transportieren vermögen. Im Denkmal für ein Meer und in den Dämmerungen, im Grunde sind beide Gedichte, wird Poesie als ein möglicher Ort des Verschmelzens von Natur, Geist, Seele erkannt.
Der Leib des Menschen wird als Skulptur zur Landschaft, nicht nur zu ihrer Erweiterung, sie wird zur Neuschöpfung der Natur. Die Natur vollendet sich hier im Menschen, im Einklang mit ihm. Die malenden Steine (Hier dabei: Vita nova mea, Zu zweit) entstehen gemeinsam mit dem vorgefundenen Material – grundsätzlich ohne Vorzeichnung, ohne Entwurf, im freien Spiel eines gemeinsamen Eros.
Sich durchlässig machen im Prozess des Formens, das immer auch ein Gebären ist. Es befreit die Form aus dem Stein, so arbeite ich, ich befreie so gern. Die Oiselettes gestalten ein Frauenbild: Il Bacio, ein Körpergesicht, nimmt den Geist in den Körper zurück, hebt historische Trennungen auf. Hier fehlt ja kein Kopf, der Körper ist nun seine Form. Das verrückte Grün lebt das freie, befreite Dasein in einer zum Ende der Serie geführten abstrakten Form.
Heidrun Feistner, Berlin 2020
Future Landscapes
Nature is reclaiming mankind. In the attempt to escape this "maelstrom", some are relying on technology as an unbroken instrument of progress that is measured by nature in the perception of humans. Others take the path to return to nature, but we are their agents, looking for a common path.
Art can be exemplary here. It has the possibility of spiritualizing the inorganic, the matter, of venturing into a dream that only we ourselves can dream: within us nature is dreaming.
It is the age-old dream of reconciliation with it, which is confronting us with tremendous, violated, untamed force, more and more as the avenger of our own failure facing it. That dream was and will be in art as a universal idea of liberation, we have called it utopia, now we are looking for a term. We understand that art cannot help but be “utopian”.
Atlantis commemorates the doom and gloom scenario of high culture, it is creating my shape. How should the future be conceived without the present of the catastrophe? This sculpture is part of the Angels of History series, it is one of my first works. If you turn it, you can see that it quotes several works from the Renaissance. Für Paul Klee, Für Friedrich Hölderlin, Für Rainer Maria Rilke, which were created last year, are also represented here. They are three-dimensional conversations with existential philosophical and literary texts.
My work wants to be multi-layered, ambiguous, alterable. A change of perspective often changes the character, the expression of a face, many stones are living in a single stone. I often "cut" sequences into the stones - like in a film. Whatever I did: the sculpture remains self-contained, remains homogeneous.
El canto general is expressing the song of the living, the song of life in organic forms, which are able to convey ancient ambivalences of affection and defense. In Memorial to a Sea and Dämmerungen, basically both poems, poetry is recognized as a possible place of the merging of nature, spirit, soul.
As a sculpture, the human body becomes a landscape, not just an extension, it becomes a new creation of nature. Nature is perfected here in man, in harmony with him. The painting stones (here: Vita nova mea, Für Friedrich Hölderlin, Two by two) are created together with found material - basically without a preliminary drawing, without a draft, in the free play of a collective eros.
Making yourself permeable in the process of sculpting, which is always also a form of giving birth. It is freeing the shape from the stone, that's how I work, I love to set free. The Oiselettes create an image of women: Il Bacio, a body face, takes the spirit back into the body, eliminating historical divisions. No head is missing here, the body is now its form. The crazy green is living the free, liberated existence in an abstract form leading to the end of the series.
Heidrun Feistner, Berlin 2020
Für Paul Klee / Engel der Geschichte / Stein / 29 cm / 2019 / Foto HF
Heidrun Feistner: Atlantis / Engel der Geschichte / Stein / 2013 und 2014 / Foto Christine Kösser
Es gibt eine Weltkarte von Atlantis, sie reicht von Spitzbergen im Norden bis in den Süden Afrikas, von Aztlán im Westen bis hinüber nach Indonesien zum Sunda-Land.
Platon zeichnete den Zeitgenossen das Szenario des Untergangs einer frühen und dekadenten Hochkultur als Bild eines drohenden
Strafgerichts. Diese Kunde würde fortan das Erinnern an die Möglichkeit einer anderen als der vorgefundenen Welt wie einen Homunculus umschließen. Utopie, so eingebettet, als ein schon immer
gescheiterter Gegenentwurf, sagen die Künstler, würde formuliert werden können. In einer zunehmend als eindimensional empfundenen Welt möchten sie Arbeiten schaffen, die Räume zu öffnen und zu
bevölkern vermögen.
Der Dachverband der Deutschen Immobilienverwalter eröffnete seine Geschäftsstelle am Leipziger Platz im April 2016 mit einer Vernissage. Sie können die Ausstellung "Atlantis" nach vorheriger Anmeldung von Montag bis Freitag zwischen 10.00 bis 16.00 Uhr besuchen. Sollten Sie Interesse an einer Führung haben - ich begleite Sie gern.
Die Büroetage befindet sich über dem Deutschen Spionagemuseum, im 2. OG des Gebäudes - direkt am U-Bahnhof Potsdamer Platz.
Eine ausführliche Dokumentation der vorangegangenen Ausstellung finden Sie hier.
Parallel zu der Ausstellung "Atlantis" im Zentrum Berlins gab es die als Gegen-Ausstellung konzipierte Ausstellung "Engel der Geschichte / Vita umbrae" am Rande der Stadt in der Galerie der Gießerei Flierl in Berlin-Weißensee. Im Anschluss wurden diese beiden Ereignisse am Leipziger Platz zusammengeführt. Eine Dokumentation dieser zweiten Ausstellung finden Sie hier.
Nachfolger des Bauhauses - Zwei Künstlergenerationen in der DDR
17.08.2018 bis 15.02.2019
Ausstellung
im Henry van de Velde - Museum Haus Schulenburg Gera
Eine ausführlichere Dokumentation dieser Ausstellung finden Sie hier...
Katrin Budde, MdB, Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien, hielt die Eröffnungsrede.
Canto General, der große Gesang, das ist für mich ein Gesang des Lebens, ein Gesang für das Leben. Pablo Neruda schrieb diese Verse für die Befreiung der lateinamerikanischen Völker, sie erschienen 1950 im mexikanischen Exil. Dieses Buch faszinierte mich durch seine unbändige poetische Kraft.
Dieser „Allgemeine Gesang“ ist ein Gesang der Schöpfung selbst. Er gilt der Entwicklung des Lebens vom Anorganischen über das Organische bis hin zum Geistigen. Für einen Menschen, der mit Steinen arbeitet, der an diese Steine rühren, diese Steine „erwecken“ möchte zum Lebendigen hin, muss diese Genese bedeutungsvoll sein – sie kennt keinen Gegensatz zwischen Körper und Geist, Goethe hätte hier aufgemerkt.
Zur Vernissage werden zwei Bronzen mit dem Titel „Der große Gesang“ gezeigt, ich entwarf sie ursprünglich als Stein. Ihr Gold erinnert an Mexico, an Magie, es ist poetische Metapher auch für das Feuer, das sie formte. Diese Form, zugleich Flosse und Flügel, vielleicht auch Pflanze, gehört dem Organischen an, besingt Wasser, Lüfte und Erde. Letztlich aber erinnern diese Flossen/Flügel auch an einen Engel der Verkündigung, an einen Engel vor einem Kreuz, in den Boden gerammt. Es sind ambivalente Formen der Zuwendung und der Abwehr, die Sie in meinen Arbeiten häufig antreffen werden. Sie transportieren Bilder, die sich uns eingeprägt haben.
Weitere Fotos finden Sie hier...
Der kleine Aber / Engel der Geschichte / Alabaster weiß / 22cm / 2021 / Foto Olaf Mokansky
Einige weitere Arbeiten aus Alabaster finden Sie hier.
In den Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken Berlin und München erschien "Nachdenken über Aristide Maillol" - Bibliotheksmagazin 2/17, S. 45-49